Ausgezeichnet 2022 mit dem Deutschen Buchpreis und dem Schweizer Buchpreis sowie dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung.
Die Erzählfigur in ›Blutbuch‹ identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Grossmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Grossmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Grosstante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.
Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.
Ich finde es schwierig, eine neutrale Bewertung zu dem Buch zu verfassen. Viel zu sehr bin ich von der Thematik Gender und Visibility eingenommen. Gerade deshalb hat das Buch von Kim aber 5 Sterne verdient. Es ist ein unglaubliches Buch mit einem einzigartigen Schreibstil, der auch nachhängt, wenn man das Buch einmal zur Seite gelegt hat.
Ich kann gut verstehen, wenn das Buch nicht für alle etwas ist – das soll es aber auch nicht sein. Vielmehr ist das Buch von Kim eine Geschichte über Kims Leben, über Aufwachsen, Familie, über Erwartungen und Normen. Mit dem Buch will Kim zeigen, dass nicht alles so einfach ist, wie es scheint. Dass mehr an uns hängenbleibt, als wir vielleicht denken. Gedanken von Vormüttern und Vorpersonen vielleicht, die unser heutiges Leben jetzt auch noch prägen.
Es ist keine leichte Lektüre, aber es lohnt sich, ihr eine Chance zu geben. (Auch wenn die Sprache und das permanente Nicht-Gendern für manche Lesende wohlgewöhnungsbedürftig sein mag)
Grammatikalisch herrausvorderung
Bewertung aus Winterthur am 19.01.2023
Bewertet: Buch (Gebundene Ausgabe)
Eine so Grosse menge an Sätzen ohne Verben habe ich lange nicht mehr gesehen. Zudem werden geschlechtslose Pronomen durch weniger Geschlechtslose Nomen, welche als Pronomen missbraucht werden, ersetzt. Dies alles stört für mich persönlich extrem den Lesefluss. Man, oder wie der Autor sagt: Mensch kommt gar nicht richtig ins lese. Diese Tatsache wird noch dadurch verstärkt, dass es sich um eine eher abstrakte Geschichte handelt. So ähnlich wie moderne Kunst. Man (äh ich meine mensch) muss es schon irgendwie verstehen um es zu verstehen, wieso dies so angepriesen wird.
Unsere Buchhändler*innen meinen
Es ist ein Problem aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite neu und versuchen es noch einmal.
Ich kann den Hype gut verstehen und auch die Buchpreise sind sehr gerechtfertigt.
Das Buch ist sehr 'süffig' geschrieben und Mensch möchte immer weiterlesen.
Das Buch ist in Briefform an die Grosmutter geschrieben. Es ist ein Versuch sich wieder an die Kindheit zu erinnern. Auch wird die Weibliche Blutlinie der Familie recherchiert und daraus ergeben sich sehr spannenen Geschichten.
Ich finde aber einige Stellen sehr krass. Es werden diverse Sex-akte sehr explizit beschrieben und die Spache ist ab und an sehr unverblühmt.
Es ist ein Problem aufgetreten. Bitte laden Sie die Seite neu und versuchen es noch einmal.
Völlig von den Socken gehauen hat mich Kim de l’Horizon mit dem nun zweifach ausgezeichneten Debütroman “Blutbuch”.
Da wäre allein die Sprache:
- bewusst wird hier mit der Satzlänge gespielt, was opulent oder abgehackt wird, je nach Alter und Stimmung der Erzählfigur
- Deutsch, Neu-Deutsch, Mundart, ein bisschen Französisch und Englisch sind zu einem faszinierenden Sprachteppich verwoben worden
- all diese treffenden Adjektive, die dem Roman – erneut – Opulenz verleihen
- und dieses Sprachgefühl: Wie de l’Horizon der Sprache nachforscht, dem Französischen in seiner Alltagssprache, das für die Grossmeer Zeichen des gesellschaftlichen Aufstiegs, aber eigentlich Sprache der französischen Besatzer war; der Sprache im Pflegeheim, wo es keine Personalpronomen mehr gibt ausser dem unpersönlichen “man” und somit alle Bewohner*innen allein durch den Sprachgebrauch ihre Individualität verlieren; und natürlich nutzt de l’Horizon eine gendersensible Sprache, die fast unbemerkt den Text mitprägt, ganz zu schweigen von Neuschöpfungen, wie “absenfen”, an denen ich enorm Freude hatte
Dann die Erzählstile und -weise: Briefe, Recherchesammlungen, Rückblenden und direkte Ansprachen prägen die fünf Teile der Erzählung und geben ihnen jeweils einen ganz eigenen Stil, eine eigene Tonalität und tragen ebenso zur Vielseitigkeit bei. Wir werden direkt angesprochen und auch auf diese Weise direkt reingezogen in die Geschichte.
“Ich bitte um einen kleinen Vertrauensvorschuss: Das scheint jetzt alles random, aber Goethe und Parks wie jener von Volksbeschützer Franz werden wichtig sein, um zu verstehen, wie die Blutbuche im Garten meiner Familie landete. I swear!”
Hinzu kommen die kulturelle Verweise auf andere Bücher, Erzähler*innen, Filme, Musik, teils den einzelnen Teilen als Zitat vorangestellt oder auch als direkte Referenz im Fliesstext, was dem Roman zudem etwas enorm Informatives verleiht.
Das klingt jetzt womöglich alles etwas überfrachtet, aber das ist es nicht, sondern es fügt sich alles mühelos zu einer genussvollen Lektüre zusammen!
Und natürlich ist da die Erzählung selbst, dieser Versuch, sich der Grossmutter, der Familiengeschichte zu nähern über die Blutbuche und die Geschichte dieser Baumart, was im dritten Teil fast wissenschaftlich anmutet und sich im vierten Teil beinah wie ein historischer Roman liest, wenn der weibliche Stammbaum der Familie aufgefächert wird. Es ist der Versuch, nicht nur sich selbst vom Erbe vorangegangener Generationen zu befreien, sondern auch die Meer und die Grossmeer zu befreien und neu auf die Welt zu bringen, als eigenständige Personen, losgelöst vom gesellschaftlichen Narrativ (Hausfrau, Mutter etc.). Gleichzeitig ist es Selbstreflektion des eigenen Lebens, der Frage nach Identität, beides im Spiegel der Gesellschaft.
Ich bin während der Lektüre aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen, habe mich begeistern und verzaubern lassen und wurde zum Nachdenken angeregt über unzählige Aspekte – zum Beispiel die Art und Weise, wie wir Geschichten und auch unsere eigenen Geschichten erzählen. Und wahrscheinlich habe ich die Hälfte der erwähnenswerten, grossartigen Aspekte des Buches vergessen zu erwähnen, daher meine Empfehlung: unbedingt selber lesen, es lohnt sich!